Gesundheit und Geschlechtergerechtigkeit: Frauen in Doti/Nepal. © UMN
Frauen in Doti/Nepal. © UMN

Nepal: Gesundheit und Geschlechtergerechtigkeit

Frauen in Nepal oftmals diskrimiert

Die Verfassung Nepals schützt Mädchen und Frauen. Doch die Realität sieht vielfach anders aus. Heirat im Kindesalter, frühe Schwangerschaften, harte Arbeit im Haus der Schwiegereltern, Diskriminierung, chronische gesundheitliche Probleme. Ein Interview mit Cheli Gurung, Gender-Beauftragte der United Mission to Nepal (UMN) in Kathmandu.

Gossner Mission: Cheli, auf einem deiner Projektbesuche ist dir eine schwangere junge Frau begegnet – eine Begegnung, die dich sehr berührt hat. Was war mit ihr?

Cheli Gurung: Wir hatten einen Gender-Workshop im Doti-Distrikt zum Thema Gleichstellung von Männern und Frauen. Eine der Teilnehmerinnen war im neunten Monat schwanger. Gegen Ende des Workshops gingen die Wehen los. Zum Glück gab es ein Gesundheitszentrum in der Nähe. Als wir sie dort am nächsten Tag besuchten, war sie ziemlich unglücklich. Ihr Baby war ein Mädchen, die Schwiegerfamilie aber hatte auf einen Sohn gehofft. Sie sollte zwar abgeholt werden, aber niemand wollte ihr helfen, denn eine Wöchnerin gilt hier als rituell unrein. Niemand darf sie berühren. Kurz entschlossen haben wir sie und das Baby in unser Fahrzeug gesetzt, um sie nach Hause zu fahren. Dabei wären wir eigentlich an einem Tempel vorbeigekommen – aber wir wurden unterwegs gestoppt. Mit dem Hinweis, das ginge wegen der damit verbundenen Verunreinigung nicht. So musste die junge Frau also mit ihrem Baby und all ihren Sachen aussteigen und zu Fuß weitergehen, um einen Umweg um den Tempel zu machen. Diese Geschichte hat mich sehr betroffen gemacht.

Gossner Mission: Für dich war das neu?

Cheli Gurung: Nein, aber in meiner Familie gibt es so etwas nicht. Im Westen von Nepal jedoch sind solche frauenfeindlichen Gebräuche noch gang und gäbe. Das gilt ja nicht nur für die Zeit des Wochenbetts, sondern Monat für Monat, wenn wir Frauen unsere Menstruation haben. Frauen gelten dann als unrein und dürfen niemanden berühren; müssen gar im Stall oder in eigens errichteten kleinen Hütten übernachten. Man nennt das Chaupadi. Und Chaupadi ist nicht nur ein Phänomen der abgelegenen ländlichen Gegenden, sondern man findet es auch in sogenannten gebildeten Kreisen.

Gossner Mission: Die nepalische Verfassung von 2015 umfasst eine Reihe von Bestimmungen, die jegliche Diskriminierung auf der Basis von Klasse, Kaste, Region, Sprache, Religion und Geschlecht beseitigen sollen. Ziel sind soziale Gerechtigkeit und ökonomische Gleichstellung. Aber die Geschichte zeigt, dass es noch viele Probleme in der Umsetzung gibt?

Cheli Gurung: Ja, das stimmt. Aber es gibt auch große Unterschiede innerhalb des Landes. Ich hoffe, dass sich die verschiedenen ethnischen Gruppen und Kasten wechselseitig beeinflussen können. Positiv ist, dass Frauenquoten für politische Positionen festgelegt wurden. Alle Parlamente, auf nationaler Ebene ebenso wie in Provinzen und Gemeinden, sind verpflichtet, 33 Prozent der Mandate für Frauen zu reservieren. Auf nationaler Ebene beträgt ihr Anteil in den Gremien jetzt 34 Prozent und auf lokaler Ebene 41 Prozent. Das war 2017 ein wirklicher Durchbruch und gibt mir Hoffnung auf Veränderung. Die Verfassung sagt in Artikel 38 auch, dass jede Frau das Recht auf Gesundheit und Geburtshilfe hat sowie auf Schutz gegen physische, mentale, sexuelle und psychologische Gewalt. Die rechtlichen Grundlagen sind da, aber die Umsetzung ist schwer. Die, die sie umsetzen sollen, sind ja Teil der Gesellschaft mit dieser frauenfeindlichen und patriachal geprägten Kultur.

Gossner Mission: Die COVID-19-Pandemie hat Nepal schwer getroffen. Wie hat sich Corona auf die Situation von Frauen und ihre Gesundheit ausgewirkt?

Cheli Gurung: Viele Frauen, vor allem im Terai, arbeiten als Tagelöhnerinnen und im informellen Sektor. Das bedeutet, dass staatliche Hilfsprogramme sie kaum erreichen, wenn sie pandemiebedingt ihre Arbeit verlieren. Viele wissen nicht, welche Rechte sie haben und was sie an Hilfsleistungen vom Staat erwarten können. Besonders alleinstehende Frauen haben es schwer, ihre Anliegen und Interessen durchzusetzen. Hinzu kommen Sprachbarrieren. Die meisten der Arbeitsmigrantinnen mussten Indien und andere Länder verlassen und kehrten ohne Einkommen nach Nepal zurück. Was wir dann beobachtet haben, war ein Anstieg der Geburtenrate. Es waren mehr Männer zu Hause, und die Familienplanungsdienste hatten pandemiebedingt geschlossen. Viele Frauen verwenden die Dreimonatsspritze zur Verhütung. Selten sind Männer bereit, Kondome zu benutzen. Und weil auch Gesundheitseinrichtungen teilweise geschlossen waren oder aber die Frauen aus Angst vor Corona sie nicht aufsuchten, fiel oftmals die Schwangerenvorsorge aus. Geburten fanden wieder ohne Hebamme zu Hause statt, unter schwierigen hygienischen Verhältnissen. Auch die Impfprogramme für die Babys waren betroffen. Corona hat somit zu herben Rückschlägen geführt.
    
Gossner Mission: Amnesty International hat 2011 eine Studie zum Gebärmuttervorfall veröffentlicht, unter dem nicht nur ältere, sondern auch junge Frauen in Nepal leiden. Wie kommt das?

Cheli Gurung: Die Gründe sind vielfältig, hängen aber immer mit der Diskriminierung und starken Belastung von Frauen zusammen. In vielen Regionen Nepals heiratet fast die Hälfte der Mädchen vor dem gesetzlichen Mindestalter von 20 Jahren. Zehn Prozent heiraten sogar, bevor sie 15 Jahre alt sind. Obwohl das Gesetz solche Kinderehen verbietet. Frühe Heirat führt zu frühen Schwangerschaften und einer raschen Folge von Geburten. Und die Schwiegertöchter müssen hart arbeiten, schwere Lasten tragen, und sie sind die letzten, die während der Mahlzeiten essen. Kein Wunder, dass es zu solchen gesundheitlichen Problemen kommt. Wir sprechen hier über ein Menschenrecht. Es geht nicht nur um den Zugang zu angemessener Behandlung bei Krankheit, sondern um die Bedingungen für ein Leben in Gesundheit und Würde.

Gossner Mission: Wenn man über Gesundheit und Krankheit spricht, denkt man zuerst an Krankenhäuser, wovon Nepal insgesamt 125 hat. Ein ebenso wichtiger Beitrag zur Gesundheit wird von Zehntausenden ehrenamtlichen Gemeinde-Gesundheitshelferinnen (Female Community Health Volunteers, FCHV) geleistet. Auch hier sind es die Frauen, die sich ohne Bezahlung kümmern und engagieren. Ist das nicht ungerecht?

Cheli Gurung: Ja, das kann man so sehen. Wenn es um bezahlte Arbeit geht, sind die Männer rasch zur Stelle. Andererseits ist dies der Beitrag der Gemeinden im Gesundheitssystem, also eine Form der Beteiligung und Übernahme von Eigenverantwortung. Die Frauen werden auf Gemeindeebene gewählt und ausgesucht. Sie bekommen eine Ausbildung und besuchen Kurse, sie können ihr Dorf verlassen und über Nacht weg bleiben. Meine Schwiegermutter war viele Jahre auf diese Weise engagiert. Sie hat es geliebt, es hat ihr viel Respekt eingebracht; sie konnte ihre Gemeinde in der Öffentlichkeit vertreten, wenn es um soziale und Gesundheitsfragen ging. Wir haben hier also zwei Seiten einer Medaille, Ausbeutung und Anerkennung. Übrigens gibt es im Gesundheitswesen viele sehr gut qualifizierte Frauen auch in den bezahlten Berufen. Auch die Ärztinnen holen auf.

Gossner Mission: Wie geht es weiter?

Cheli Gurung: Wir dürfen nicht nachlassen. Die Verfassung nimmt, auch wenn sie nicht perfekt ist, die Frauen in den Blick. Basierend darauf brauchen wir entsprechende Gesetze. Dann kommt der schwere Part, für den wir viel Kraft und Ausdauer brauchen: die Umsetzung. Das ist wohl in Deutschland nicht anders, oder? In Nepal wurde im Gesundheitsbereich in den letzten Jahrzehnten bereits einiges erreicht. Die Mütter- und Kindersterblichkeiten sind erheblich gesunken. Auch gibt es seit einigen Jahren eine nationale Krankenversicherung, in der Familien für wenig Gebühr Mitglied werden können. Aber in den abgelegenen Regionen und für marginalisierte Menschen in der Gesellschaft – wie Dalits, Landlose, Arme – bleibt noch viel zu tun. Diese benachteiligten und oftmals ausgegrenzten Gruppen müssen gezielt angesprochen werden. Tief verwurzelte gesundheitsgefährdende Praktiken müssen beendet werden. Aber wir müssen auch das Gesundheitssystem als Ganzes im Auge behalten: Wieviel Mittel und Anstrengungen gehen in die öffentliche Versorgung? Inwieweit werden Dienste privatisiert und damit zu Investitionsobjekten – und sind in der Folge nur noch für Reiche und in den Städten zugänglich? Auch das hat Konsequenzen für die Mädchen und Frauen in Nepal.

(Berlin, 2021)